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Komplexitaet und Dynamik
Patrik Schumacher im Gespräch mit Ralf Ferdinand Broekman und Olaf Winkler.
Published in: build Das Architekten-Magazin, 2/2012, Herausgeber/Chefredakteur: Ralf Ferdinand Broekman

 

Fragen & Antworten

Wir beobachten eine Krise des globalisierten, post-fordistischen Kapitalismus, die sich weitaus grundlegender und weniger temporär darstellt, als sie etwa im Nachgang zu 2008 von vielen Beobachtern beschrieben wurde. Wie schätzt Du diese Entwicklung ein?

P.Sch:
Ich sehe die Situation gelassen und glaube nicht dass sich aufgrund der gegenwaertigen Wirtschafts- und Schuldenkrise eine grundlegende Tendenzwende in der Weltgesellschaft abzeichnet. Es handelt sich hier um eine notwendige Marktkorrektur in Bezug auf vorgaengige Auswuechse der Finanzspekulation. Die globale Transformation von einer Fordistischen Massengesellschaft zu einer Postfordistischen Netzwergesellschaft geht weiter. Und genau das ist entscheidend fuer die Frage wie der Architekturdiskurs auf die Krise reagiert. Wir sollten auf keinen Fall mit Parolen wie „back to basics“ das Projekt des Parametrismus suspendieren.

 

Kennzeichen der aktuellen Weltgesellschaft ist auch eine Relativierung politisch-kultureller Hegemonien westlicher Dominanz. Inwieweit resultieren aus diesen Verschiebungen Konsequenzen für die Architektur und Architekturtheorie?

P.Sch:
Spielt Ihr hier auf die relative Staerke Chinas und Indiens an? Ich denke da ergeben sich kaum Konsequenzen für Architektur und Architekturtheorie. Die Entwicklung von China und Indien auferlegt uns eine neue Groessenordnung und Geschwindigkeit in der Projektplanung. Sie verlangt aber keine neuen Prinzipien, denn diese Schwellenlaender kopieren die Kernlaender des Fortschritts in ihrem Versuch zu ihnen aufzuschliessen. Die grossen Wachstumsraten der Schwellenlaender sind eine Funktion von Produktivitaetsgewinnen, die sich mittels von Technologietransfers aus den entwickelten Laendern ergibt. Das ungewoehnliche Wachstum dieser Laender ist somit eine Funktion ihrer relativen Rueckstaendigkeit und laesst sich deshalb nicht jenseits dieser extrapolieren. Je naeher sich die Schwellenlaender an das oekonomische Niveau der entwickelten Laender heranarbeiten, desto aehnlicher muessen sie ihnen auch politisch und kulturell werden. Man kann davon ausgehen, dass sich China erst anpassen muss  - inklusive Demokratisierung -  bevor es die Welt weiter veraendern kann. Denn mit autokratischen Entscheidungsprozessen ohne Pressefreiheit laesst sich die naechste Stufe der Weltzivilisation sicher nicht erreichen. Es geht hier nicht um Anpassung an ein hegemoniales westliches Muster sondern um globale Best Practice.
Ich schlage vor den Begriff des Westens nur noch in kultur-historischem Zusammenhang zu verwenden und nicht im Zusammenhang mit aktuellen Entwicklungsfragen. Ist Japan eine westliche Nation? Die Markierung von dem global dominierenden Zivilisationsmuster als „westlich“ ist angesichts der von Homi Bhabha betonten Hybriditaet aller Kulturen nicht nur falsch, sondern erzeugt auch ein ideologisches Problem, das die vorurteilslose Identifizierung und Generalisierung der im globalen Vergleich produktivsten Zivilisationsmuster behindert. Warnungen gegen einen angeblichen „Eurozentrismus“ sind verfehlt: entweder handelt es sich hier nur um eine blosse Form der Hoeflichkeit (political correctness), oder es handelt sich um einen unhaltbaren, reaktionaeren, laehmenden Kulturpessimismus. Ich gehe mit Luhmann davon aus, dass unsere Gesellschaft eine effektive Weltgesellschaft ist. Progressive Architektur muss sich als Weltarchitektur verstehen und durchsetzen. Die Avant-garde der Architektur muss sich an den im globalen Vergleich produktivsten Zivilisationsmustern orientieren und architektonische Werte und Konzepte fuer deren Weiterentwicklung entwickeln. Ich moechte hier noch hinzufuegen, dass der Fundamentalbegriff der Produktivitaet, den ich hier zugrundelege, gegenueber einem eng oekonomisch definierten Begriff weiter greift. Es geht hier nicht nur um output pro Zeiteinheit, sondern auch um Freiheit, Lebensqualitaet und Nachhaltigkeit, d.h. es ist ein Produktivitaetsmass anzusetzen in das Arbeitsbedingungen und oekologische Belastung einfliessen.

 

 

Ein weiteres Phänomen der jüngsten Zeit betrifft eine Neubewertung digitaler Medien sowie des öffentlichen Stadtraums im politischen Kontext, etwa mit Blick auf den sogenannten Arabischen Frühling. Würdest Du in diesem Zusammenhang von maßgeblichen Verschiebungen im öffentlichen Selbstverständnis, im Umgang mit öffentlicher Artikulation und im Hinblick auf eine Re-Definition öffentlichen Raums sprechen? Was bedeutet dies für unser Verständnis von Stadt?

P.Sch:
Die Postfordistische Netzwerkgesellschaft ist materiell-technologisch durch die mikroelektronische Revolution moeglich geworden, und zwar nicht nur durch die neuen Kommunikationstechnologien, sondern vor allem auch durch die ermoeglichte Flexibilisierung der Produktionstechnologien, die allererst eine viel groessere Produktvielfalt und viel schnellere Innovationszyklen unterstuetzt als im Fordismus moeglich war.  Diese neue, dynamisierte Gesellschaft verlangt eine derartige Intensivierung von Kommunikation, so dass nicht nur die neuen Medien immer intensiver genutzt werden, sondern auch die Stadt und die Architektur immer mehr in ihrer kommunikativen Kapazitaet herausgefordert ist. Es gibt viel mehr raeumliche Bewegung und raeumliche vermittelte Kommunikation als je zuvor. Das betrifft auch den oeffentlichen Raum und (unter Umstaenden) auch die politische Kommunikation. Beim Arabischen Frühlinghaben Twitter, Al Jazeera und der oeffentlichen Raum - Tahrir Square – zusammengewirkt. Die Stadt als raeumlich-kommunikative Verdichtung wird im Postfordismus viel mehr beansprucht und entwickelt als im Fordismus. Die funktional zonierte Industriestadt des Modernismus muss den urbanen Konzepten des Parametrismus weichen: die globalen Zentren der Innovation brauchen hochverdichtete, funktional durchmischte Weltmetropolen in denen alles mit allem kommuniziert. Alle sind in staendiger Vernetzung aneinader orientiert. Nur so koennen die vielen verschiedenen Lebensprozesse sich koordiniert weiterentwickeln. Dazu muessen Raeume entwickelt werden in denen viel verschiedenes gleichzeitig sichbar, und auffindbar ist, in einer differenzierten, komplexen raeumlichen Ordnung. Das ist die Herausforderung fuer die der Parametrismus Prinzipien, Arbeitsweisen und moegliche Antworten an die Hand gibt.

 

Du schließt für eine kompetente architektonische Reaktion auf soziale Anforderungen und Bedingungen Unmittelbarkeit aus und forderst einen autonomen Expertendiskurs. Findet dieser Expertendiskurs Deiner Ansicht nach bereits – und zielgenau – statt? Welche Foren bieten sich an und welche Formen der systemischen Intervention siehst Du?

P.Sch:
Eine kompetente architektonische Reaktion auf soziale Anforderungen und Bedingungen kann allerdings nur von geschulten, von bewaehrten Prinzipien geleiteten Experten erwartet werden. Das ist in der Architektur nicht anders als in der Politik, oder im Rechtsystem. Ein solches Expertentum wird von einem fachspezifischen Diskurs getragen. Wenn sich die Gesellschaft aber so stark wandelt, dass die bisher verlaesslichen Prinzipien der Architektur den neuen Anforderungen nicht mehr gerecht werden und nicht mehr zu angemaessenen Ergebnissen fuehren, dann muss entweder trotzdem so gut es geht nach bisheriger Weisheit weitergemacht werden (weil es noch keine neue Weisheit gibt) oder es muss vor Ort improvisiert werden. In solchen Zeiten ist besonders die Avant-garde der Architektur gefordert mit neuen Ansaetzten zu experimentieren. Das benoetigt zunaechst groessere diskursive Freiheitsgrade, vielleicht sogar eine temporaere, spielerische Narrenfreihet. Das war zum Beispiel so in den 70iger und 80iger Jahren. Seit den 90iger Jahren gibt es allerdings einen stetigen, kumulativen aufbau von neuen konzeptionellen und formal-kompositorischen Repertoires, die seit einiger Zeit auch auf explizite Prinzipien gebracht wurden. Die Foren dieses Avant-garde Diskurses sind Universitaeten, Konferenzen, theoretisch-experimentell orientierte Fachzeitschriften, Ideenwettbewerbe etc. Das was sich hier angebahnt hat, sollte inzwischen die Kraft haben auf die neuen Herausforderungen der Gesellschaft – der Postfordistischen Netzwerkgesellschaft -  kompetent zu reagieren. Allerdings ist dieser Diskurs noch zu sehr in seinen spielerischen Avant-garde-attitueden befangen. Er hat seine historische Chance und Verantwortung noch nicht genuegend dezidiert begriffen. Da versuche ich mit meinen Thesen nachzuhelfen. Ein Problem, das hier auch noch zu ueberwinden ist, ist die (zunaechst notwendige) Arbeitsteilung des Diskurses im Hinblick auf die funktionale Problemerfassung einerseits, und die Erarbeitung des formalen Loesungsrepertoires. Auch hier versuche ich zu vermitteln und die zwei verschiedenen Teildiskurse, die oft in feindlichem Unverstaendnis einander konfrontieren, positiv aufeinander zu beziehen.

 

Für die Systemtheorie, die für Deine Ausführungen und insbesondere für Dein Werk „The Autopoiesis of Architecture“ eine grundlegende Rolle spielt, gilt generell eine mangelnde Übertragbarkeit von der Theorie auf die Praxis als genuine Schwäche. Wie gelingt in der Architektur diese Übertragbarkeit auf eine entsprechende Praxis?

P.Sch:
Die Systemtheorie gibt einen ueberzeugenenden theoretischen Rahmen vor, der es uns erlaubt unsere gesellschaftliche Aufgabe in unserem spezifischen Problem- und Kompetenzbereich klar zu formulieren und der uns auch von ueberholten Begriffen (Architektur als Kunst), Verkuerzungen (Architektur als Technologie) und illusionaeren Ambitionen (Architektur als politische Kritik) befreit. Die Theorie der architektonischen Autopoiesis orientiert und fokussiert den Diskurs. Die architektonischen Prinzipien und rauemlichen Antworten muessen auf jeder gesellschaftlichen Entwicklungsstufe experimentell immer wieder neu formuliert und ausprobiert werden. Die Systemtheorie praejudiziert nur die Problemsituation. Zum einen macht sie (auf der obersten Abstraktionsstufe) Komplexitaet zu einem generellen Grundproblem, und zum anderen verlangt sie von der Architektur, dass sie ihr spezifisches Problemfeld klar abgrenzt und ihre exklusive gesellschaftliche Funktion verfolgt und reflektiert. Meine Theorie definiert die gesellschaftliche Funktion von Architektur wie folgt: Die Ordnung von gesellschaftlicher Kommunikation mittels raeumlicher Rahmung. Das beinhaltet die raeumliche Organisation (Ausdifferenzierung/Verknuepfung) und die Artikulation des gesammten Feldes der kommunikativen Situationen.

 

Was bedeutet das für – vertraute bzw. neue – Typologien in der Architektur? Ist hier ein Bruch bzw. eine zumindest herausfordernde tiefgreifende Adaption notwendig, und wie verhält sich dies zum Begriff der Funktion, zur Programmierung räumlicher Zusammenhänge?

P.Sch:
Die Physiognomie der gebauten Umwelt wird sich im 21sten Jahrhundert aehnlich tiefgreifend verwandeln wie im 20sten Jahrhundert unter dem weltumspannenden Einfluss des Modernismus. Der Begriff der Funktion verwandelt sich zusammen mit den formal-raeumlichen Prinzipien und architektonischen Morphologien. Die Leitunterscheidung der Architektur ist die Unterscheidung von Form und Funktion. Die grossen epochalen Stile der Weltarchitektur unterscheiden sich nicht nur in ihren Formen sondern auch in ihrer jeweiligen Auffassung/Handhabung von Programm und Funktion. Im Parametrismus begreifen wir das Raumprogramm nicht mehr als eine Liste von stereotypen Funktionstypen, sondern gehen von parametrisch variablen Aktivitaeten und Ereignis-szenarien aus, unter Umstaenden mit multiplen Publika und sich einander durchdringenden Territorien.

 

Die wachsende Komplexität und zugleich Instabilität sozialer Strukturen fragt nach angemessenen Antworten in Architektur sowie Städtebau. Wie reagiert Architektur künftig grundsätzlich auf diese Entwicklungen? Inwieweit ist hier jenseits einer übergreifenden globalen Annäherung architektonischer und städtebaulicher Gestalt etwa auch ein Wiederaufkommen von Regionalismen zu erwarten?

P.Sch:
Die wachsende Komplexität und Dynamik aller gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse bezeichnet allerdings den Kern der Herausforderung, der sich die Architektur stellen muss. Das ist ja genau der Kernpunkt an dem der Parametrismus ansetzt. Bei Komplexität und Dynamik sind wir gleichsam zuhause. Obwohl unsere Morphologien hoch differenziert und komplex vernetzt sind, darf man daraus nicht schliessen, dass diese Architektur ueberspezifiziert und damit unflexible ist. Vielmehr ist die Differezierung zunaechst unspezifisch, einfach eine Erweiterung des Angebotsspektrums. Zum Beispiel: Wenn wir in unseren Masterplaenen 100 der Groesse, Form und Ausrichtung nach verschiedene (und nach assoziativen Regeln angeordnete) Stadtbloecke anbieten  - anstatt im Modernismus nur 3 order 4 Typen -  dann ist das zunaechst einfach nur eine unspezifische Angebotserweiterung, die in einem zweiten Schritt weiter angepasst werden kann. Die Vielfalt des Angebots macht das Projekt robust und flexibel, gerade in einem dynamischen gesellschaftlichen Kontext. Ausserdem ist so ein Masterplan inherent offen fuer Veraenderungen oder Verschiebungen in den Proportionen des Angebots.


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